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Peter Buwen / Kurt Oertel / Kurt Langguth


Zur Herkunft und Ausbreitung des Indoeuropäischen


Eine Diskussion

Eine Buches:

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte die Sprachwissenschaft nachweisen, daß fast alle heutigen Sprachen Europas nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Indischen und Persischen so verwandt sind, daß eine Abstammung all dieser Sprachen von einem gemeinsamen Ursprung als sicher angenommen wurde. Diese ursprüngliche Sprache, die man seither aus den ältesten Schichten der verschiedenen Einzelsprachen zu erschließen versucht, bezeichnete man mit dem Kunstwort "indogermanisch", und zwar ihrer äußersten Ausbreitungspunkte wegen:
im Osten Indien, im Westen Island, wo noch heute eine altertümliche Form des germanischen Altnordisch gesprochen wird. International aber hat sich inzwischen der Begriff "indoeuropäisch" durchgesetzt, der auch im Folgenden verwendet wird, da er weniger mißverständlich ist. Wenn diese postulierte indoeuropäische Ursprache existiert hat, dann muß es auch ein Volk gegeben haben, das diese Sprache gesprochen hat, eben die "Indoeuropäer".
Seit fast 200 Jahren versucht man nun, dieses ausschließlich sprachwissenschaftlich erschlossene Volk dingfest zu machen. Als ursprüngliche Heimat nehmen die meisten Forscher aufgrund etlicher Indizien die weiten Steppengebiete Osteuropas an, von wo ab ca. 3500 v.Chr. die Ausbreitung der Indoeuropäer erfolgt sein soll. Aus archäologischer Sicht sind diese Ur-Indoeuropäer bis heute allerdings ein Phantom geblieben, da in der vermuteten Urheimat und den angrenzenden Gebieten bisher keine materielle Kultur nachgewiesen werden konnte, die mit dem durch die Sprachwissenschaft erschlossenen Bild völlig deckungsgleich wäre. Um genau dieses Problem geht es in der folgenden Diskussion, die im November 1998 in der mailing list ARCH-DE stattfand, wobei Peter Buwen die Sicht der Prähistoriker und Kurt Oertel diejenige der Sprachwissenschaftler vertritt. Im späteren Verlauf stößt dann noch Kurt Langguth hinzu, der neueste Erkenntnisse über die für das Thema wichtige Domestikation des Pferdes beiträgt. Für die Präsentation an dieser Stelle war es nötig, die Diskussion behutsam zu überarbeiten, was in Absprache mit den beiden anderen Teilnehmern von Kurt Oertel besorgt wurde.

P. Buwen: Man sollte zunächst einmal betonen, daß die Ur-Indoeuropäer ein rein sprachwissenschaftliches Konstrukt sind - ohne jeglichen Beleg von archäologischer oder historischer Seite.
Will sagen: die Annahme eines indoeuropäischen Urvolkes ist lediglich das Ergebnis einer sprachwissenschaftlichen Betrachtung, die die Verwandtschaft moderner Sprachen linear auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen will. Etwa genauso, wie man die Herkunft eines Autos bestimmen will, indem man den soeben beobachteten zurückgelegten Weg auf einen Ursprung X zurückberechnet - ohne jedoch ins Kalkül zu ziehen, daß dieses Fahrzeug möglicherweise vor dem Einsetzen der eigenen Beobachtung eine oder mehrere Kurven gefahren ist.

K. Oertel: Guter Vergleich. Aber erstens muß das Auto dennoch irgendwann von einem bestimmten Punkt losgefahren sein, und zweitens berücksichtigt man diese Kurven heute sehr wohl. Daß es hier noch viele offene Fragen gibt, will niemand leugnen. Daß die Annahme einer indoeuropäischen Ursprache ein theoretisches Konstrukt ist, stimmt ebenfalls. Diese Annahme ist aber nicht willkürlich aus der Luft gegriffen. Wie wissen schon, daß sich die einzelnen Sprachen von einem ursprünglich sehr viel gemeinsameren Idiom auseinanderentwickelt haben müssen. Und es ist nicht allzu gewagt, diesen Prozess mit der Entstehung z.B. der heutigen romanischen Sprachen aus dem Lateinischen zu vergleichen, der uns durch reichlich fließende Schriftquellen ja gut und lückenlos dokumentiert ist.
P. Buwen: Das ist aber auch gleichzeitig eines der Probleme und der zentrale Kritikpunkt an den Sprachwissenschaften: die moderne Sprachforschung beruht im Wesentlichen auf der Kenntnis der Weiterentwicklung der lateinischen Sprache. Fast nur hier lassen sich sprachliche Vorgänge über einen längeren Zeitraum nachvollziehen und zu Modellen formen. Sprich: die Entwicklung des Lateinischen zu den heutigen romanischen Einzelsprachen ist das einzige verizifierbare Modell für die Sprachwissenschaften. Noch deutlicher gesagt: es gibt derzeit keine Alternativen zu diesem Modell, das die Entwicklung von Sprachen aus einer gemeinsamen Quelle beschreibt. Dies wäre aber dringend erforderlich.
K. Oertel: Hier muß ich aber Widerspruch einlegen. Die Aufsplitterung des Lateinischen ist keineswegs der einzige Präzedenzfall, den wir haben.
Besonders reichhaltiges Material bieten die indischen Sprachen, wo die Ableitung der in die Dutzende gehenden indoeuropäischen Sprachen des indischen Subkontinents aus dem Vedischen des Rig-Veda durch die mustergültige Schrifttradition des Hinduismus sehr gut belegt ist, ebenso die Entwicklung des Griechischen seit dem Mykenischen.
Ähnliches gilt für die Rückführung der heutigen germanischen Sprachen auf das ursprüngliche Alt-Germanisch, das zuverlässig erschlossen ist. Über einen zugegebenermaßen nicht so langen Zeitraum kann man ebenfalls das Verhältnis der heutigen slawischen Sprachen zum alten Kirchenslawisch beobachten.
Die Entwicklung der heutigen semitischen Sprachen aus dem Akkadischen und Kanaanäischen ist ebenfalls recht lückenlos deutlich. Die ersten Anfänge solcher Auseinanderentwicklungen können wir heute gut am iberischen und südamerikanischen Spanisch, sowie an den weltweiten Unterschieden am Englischen untersuchen.
Damit haben wir also weit mehr als nur das Beispiel des Lateinischen zur Hand. Und all diese Evolutionen folgen ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die, wenn sie erst einmal erkannt sind - und das sind sie -, durchaus zuverlässige Instrumentarien zur Rekonstruktion sind.

P. Buwen: Zum ersten und den letzten Beispielen kann ich leider nicht viel sagen. Aber ist es nicht so, daß gerade beim Germanischen ein Zirkelschluß vorliegt?
Es sind nur sehr wenige germanische Schriftzeugnisse überliefert - und gar keine altgermanischen. Somit beruht dessen Kenntnis im Wesentlichen auf einer Rekonstruktion aus bekannten neuzeitlichen und mittelalterlichen Sprachen.
Wenn aber das Germanische in der Hauptsache eine rekonstruierte Sprache ist, dann können wir es kaum zur Beweisführung für eine bestimmte sprachliche Gesetzmäßigkeit in die Waagschale werfen.

K. Oertel: Strenggenommen hast du recht, Das Germanische ist rekonstruiert, und die einzigen Sprachdenkmäler sind ein paar sehr frühe Runeninschriften, aus denen man selten so recht schlau wird.
Als gut belegte Schriftsprache haben wir das Gotische, das Altnordische und Althochdeutsche. Von dort ist es aber nur ein so geringer Schritt zum Alt-Germanischen, daß diese Rekonstruktion auf sehr sicheren Füßen steht.

P. Buwen: So sagt man. Das Althochdeutsche entstand aber erst mit dem Beginn des 8. Jahrhunderts, also zeitlich weit entfernt von der ursprünglichen Sprache. Das Gotische aus dem 5. Jahrhundert kommt dem etwas näher: dennoch: das Alt-Germanische bleibt eine rekonstruierte Sprache.
K. Oertel: Dem ist nicht zu widersprechen. Wir haben aber in den frühen Runeninschriften einen Beleg für den Lautstand des Germanischen, auch wenn der Sinn der Inschriften manchmal rätselhaft bleibt.
Die früheste Inschrift in germanischer Sprache auf dem Helm von Negau datiert man immerhin in das 2. Jahrhundert v. Chr., und diese Funde bestätigen sehr wohl die Richtigkeit aller vorher stattgefundenen Rekonstruktionsversuche. Aber das war ja nicht unser eigentliches Thema.

P. Buwen: Richtig. Jedenfalls sollte man den Begriff "Indoeuropäer" zumindest in den Geschichtswissenschaften solange vermeiden, bis wenigstens ein größerer, einheitlicher, archäologischer Kulturverband aufgrund hinreichender Befunde als potentieller Kandidat dafür in Betracht gezogen werden kann.
Bis dahin ist m.E. dieser Begriff als rein sprachwissenschaftliche Hilfskonstruktion zu betrachten, die einzig dem Zweck dient, sprachliche Gesetzmäßigkeiten auf dem derzeitigen Stand des Wissens plausibel zu machen.

K. Oertel: Ich glaube, es ist genau dieser Denkansatz, der uns seit über hundert Jahren in die Irre führt:
die Suche nach einer klar begrenzten Urheimat, deren Bodenfunde sich schön mit der sprachwissenschaftlich erschlossenen Umwelt zur Deckung bringen lassen.
Leider spielt dabei teilweise immer noch das antiquierte Bild der "aristokratischen Reiterkrieger" in die Frage hinein, die irgendwann wie ein Hunnensturm über die friedlichen Ackerbaukulturen Alt-Europas hergefallen sein sollen.

P. Buwen: Ich bin ebenfalls kein Verfechter der Urheimat-Theorie, im Gegenteil. Ich deutete ja schon an, daß diese Vorstellung verifiziert werden müßte, um Gültigkeit zu besitzen. Und das ist derzeit nicht möglich. Also suche man nach verifizierbaren Alternativen.
K. Oertel: Die neuere Forschung sieht das durchaus differenzierter. Neuerdings geraten die Bandkeramiker - oder zumindest Teile von ihnen - immer stärker in Verdacht, bereits eine indoeuropäische Sprache gesprochen zu haben.
Die Berg- und Gewässernamen im östlichen Mitteleuropa sind nämlich ausschließlich indoeuropäisch, und das darf man als Hinweis darauf sehen, daß die erste hier seßhafte (!) Bevölkerung indoeuropäisch sprach. Daß die Kultur der Bandkeramiker sich von der erschlossenen indoeuropäischen erheblich unterscheidet, könnte man damit erklären, daß die Indoeuropäer bereits früh mit ihnen verschmolzen, bevor sie sich über Mitteleuropa ausbreiteten. Und mit diesem Prozess müssen wir generell rechnen: wo immer uns die ersten Indoeuropäer faßbar werden, haben sie schon so viele Verschmelzungsprozesse hinter sich, daß von "Ur-Indeuropäern" keine Rede mehr sein kann.
Dementsprechend ist mit zahlreichen Zwischenstationen und Umwegen zu rechnen, den Kurven aus deinem Auto-Vergleich.
Auch sprachwissenschaftlich ist das alte Stammbaum-Modell durch differenziertere Erklärungen ersetzt worden (Wellentheorie usw.).
 
P. Buwen: Eigentlich sollte man vorsichtiger sein. Anstatt glattweg zu behaupten, die Bandkeramiker hätten eine indoeuropäische Sprache gesprochen, sollte man sagen, daß sie möglicherweise aufgrund gemeinsamen Ursprungs eine gemeinsame Sprache oder verwandte Sprachen gesprochen haben, die ihren Niederschlag in dem finden, was wir heute indoeuropäisch nennen.
Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, daß eine Gruppe von Menschen - in diesem Fall die Bandkeramiker - , deren Vorfahren aus dem syrisch-palästinensischen Raum bzw. Anatolien nach Europa eingewandert waren, eine gemeinsame Sprache gesprochen hat.
Ich halte es andererseits für etwas überzogen, diese automatisch zur indoeuropäischen Ursprache zu erklären. Ich könnte mir aber vorstellen, daß sie eine wesentliche Komponente der Indoeuropäisierung der hiesigen Sprachen darstellte, so wie dies auch für spätere Einwanderersprachen gelten mag.

K. Oertel: Niemand hat das "glattweg behauptet", sondern bestenfalls mit aller Vorsicht in Erwägung gezogen.
Aber davon abgesehen: volles Einverständnis.
Keiner wollte die Bandkeramiker mit den Ur-Indoeuropäern gleichsetzen, sondern lediglich andeuten, daß hier ein Einfluß unter vielen vorgelegen haben kann. Die Sache mit den Bandkeramikern ist lediglich ein recht neuer Aspekt, da man die ja bisher aus der Kandidatenreihe ausgeschlossen hatte und sich mehr auf die Schnurkeramiker versteift hatte.
Aber ich gebe gerne zu, daß wir uns hier in hochspekulativen Bereichen bewegen, wo man viel behaupten und wenig beweisen kann.

P. Buwen: Es gab in der Vergangenheit auch verschiedene andere sprachwissenschaftliche Ansätze, z.B. die Verschmelzung mehrerer Sprachen zu einer neuen, wie dies ansatzweise beim Rumänischen der Fall ist: de facto ist das wohl eine romanische Sprache, die jedoch ihre Nähe zum Slawischen nicht völlig verbergen kann.
K. Oertel: Volle Zustimmung. Dieses Verschmelzen mit den vorgefundenen Sprachen der Urbevölkerung ist ja besonders gut im Griechischen und Germanischen zu beobachten. Das Aufnehmen von Elementen der jeweiligen autochthonen Sprachen ist ja ein wesentlicher Grund dafür, daß es zu einer solchen Aufspaltung des Indoeuropäischen kam.
P. Buwen: Im Fall der indoeuropäischen Sprachfamilie - ich spreche von der heutigen Verwandtschaft - ist auch an eine Überlagerung mehrerer Sprachen zu denken.
Man bedenke, wie viele Einwanderungswellen seit prähistorischer Zeit in Europa erfolgt sind, die alle für sich einen bestimmten Ausgangspunkt und damit möglicherweise eine gemeinsame Sprache hatten - natürlich nur jede Welle für sich genommen.
Angefangen mit der Neolithisierung - mit Ausgangspunkt in einem relativ eng begrenzten Gebiet im Vorderen Orient - über die thrako-kimmerische Einwanderung bis hin zum Hunnensturm, um nur drei zu nennen.
All diese Einwanderer waren Träger bestimmter Sprachen, die sicherlich nicht ganz ohne Einfluß auf die einheimischen Sprachen Europas geblieben sind. So mag sich erst im Lauf vieler Jahrhunderte eine Verwandtschaft der europäischen Sprachen eingestellt haben, die ursprünglich noch gar nicht existierte.

K. Oertel: Wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, deutest du die Möglichkeit an, daß sich die Ähnlichkeiten der indoeuropäischen Sprachen erst durch jahrhundertelange Nachbarschaft herausgebildet haben, also durch konstanten Kulturkontakt immer ähnlicher geworden sind.
Hier muß man unterscheiden: während die Entlehnung einzelner Wörter problemlos Sprachgrenzen überspringen kann, was ja auch häufig der Fall ist, ist das bei grammatikalischen Strukturen sehr viel unwahrscheinlicher, da diese meist inkompatibel sind. Hier macht schon ein einziges Deklinationsbeispiel aus geographisch weit entfernten Räumen klar, was ich meine:
Das Wort "Feuer" lautet im Lateinischen "ignis", im Sanskrit "agnis".
Wenn wir nun die Casi vergleichen, ergibt sich: Lateinisch Sanskrit Nom. Sing.: ignis agnis Akk. Sing.: ignem agnim Dat. / Abl. Pl.: ignibus agnibhyas Hier ist das Lateinische über die Jahrhunderte bestimmt nicht mit dem Altindischen "zusammengewachsen".
Allenfalls des Wegfall von Formen wie Vokativ, Lokativ und Instrumentalis im Westeuropäischen könnte man mit Nachbarschaft erklären, aber auch da wäre ich extrem vorsichtig.
Gerade Casus-, Numerus- und Tempusformen - generell grammatikalische Parallelen - sind ein zuverlässiges Indiz auf gemeinsame Abstammung, weil sie eben nicht auf Nachbarvölker beschränkt sind, sondern sich von Island bis zur chinesischen Grenze finden lassen.

P. Buwen: Das gebe ich gerne zu. Andererseits wäre aber die Möglichkeit zu erwägen, daß die Vorgängersprachen über lange Zeit benachbart gewesen sind, ohne daß es sich dabei um ein gemeinsames Indoeuropäisch gehandelt haben muß. Sowohl nach Indien wie nach Europa gab es immer wieder Vorstöße aus zentralasiatischen Gebieten. Die Betonung liegt dabei auf "immer wieder", und es ist nicht auszuschließen, daß sich in diesen Gebieten eine Verwandtschaft zwischen mehreren Sprachen herausgebildet hat, deren Nachfolger wir heute an verschiedenen Enden der Welt wiederfinden.
Will sagen: anstatt nach einem indoeuropäischen Urvolk mit gemeinsamer Ursprache zu suchen, sollte man vielleicht ein solches Modell ins Kalkül ziehen. Gerade die innerasiatischen Steppengebiete eignen sich m.E. für eine solche These, denn in diesem Gebiet verliefen kulturelle Entwicklungen extrem langsam, sie vermitteln manchmal sogar das Gefühl eines regelrechten Stillstandes: während in Europa das Neolithikum von der Kupferzeit abgelöst wird, die schließlich der Bronzezeit weicht, hat sich östlich des Ural - einmal übertrieben ausgedrückt - gerade einmal die Bodenform eines Keramikgefäßes geändert. Einiges scheint also dafür zu sprechen, daß in den zentralasiatischen Steppen zwar eine große individuelle Mobilität existierte, andererseits aber wenig oder gar kein Bevölkerungsaustausch stattfand.
Nachbarn blieben möglicherweise über Jahrtausende Nachbarn, was einem sprachlichen Zusammenwachsen sehr entgegenkäme.
Ist es nicht so, daß die Sprachwissenschaftler irgendwo in Zentralasien oder Osteuropa die indoeuropäische Urheimat vermuten?
Und ist es nicht so, daß sie sich äußerst schwer damit tut, die genauer zu identifizieren?
Gibt es diese angeblich einheitliche Urheimat vielleicht gar nicht, sondern lediglich eine Art "Sprachpool", der immer wieder die angrenzenden Gebiete - also Europa und den indischen Subkontinent - "impft"?

K. Oertel: Ja, diese Möglichkeit ist absolut ins Kalkül zu ziehen. Nur führt uns auch dieses Modell in der Praxis zu genau derselben Frage zurück. Ob wir die Gegend nun Urheimat oder Mischgebiet nennen, ändert doch nichts an der grundlegenden Problematik, wann und von wo diese Entwicklung ausgegangen und wie und auf welchen Wegen die Ausbreitung vonstatten gegangen ist, bis die ersten Gruppen in den schriftlichen Quellen auftauchen.
Für diese Frage spielt es doch nur eine untergeordnete Rolle, ob das Indoeuropäische von einem scharf umrissenen Urvolk ausging, oder sich - durch welche Mechanismen auch immer - in einem gewissen Gebiet entwickelte, wobei wir dieses Gebiet gerne großflächiger annehmen dürfen, als dies einige konventionelle Modelle getan haben.

P. Buwen: Ich denke schon, daß es sich um einen relevanten Unterschied handelt, ob wir nun nach einem Urvolk mit gemeinsamer Sprache suchen, das sich ausbreitete oder aber annehmen, daß wir in Zentralasien einen Sprachpool als konstante Größe besaßen, der die Randgebiete sprachlich beeinflußte. In dem einen Fall müßten wir die ethnischen Vorfahren von Europäern, Persern und Indern in Zentralasien bzw. Osteuropa suchen, im zweiten Fall vermuten wir lediglich Einflüsse aus diesen Gebieten.
K. Oertel: Für das Neolithikum ist es schwierig, die Ausbreitung einer Sprache ohne entsprechende Wanderungen anzunehmen. Auch wenn es sich dabei nicht um invasionsartige Landnahmen gehandelt haben muß, ist doch eine Sprachausbreitung allein aufgrund kultureller Ausstrahlung - ein Prozess, wie er sich z.B. heute bei der Ausbreitung des Englischen abspielt - eher unwahrscheinlich.
Bisher ging man davon aus, daß sich überall in Europa eine Mischbevölkerung aus Alteuropäern und zugewanderten Indoeuropäern gebildet hat, die im Lauf der Jahrhunderte völlig verschmolzen ist, wobei sich die Neuankömmlinge aber sprachlich durchgesetzt haben.

P. Buwen: Nicht "man" ging davon aus, sondern "einige" taten das. Andere vertreten die Ansicht, daß es zu einer Verdrängung der alteuropäischen Mesolithiker kam und nicht zu einer Vermischung, ohne daß dies Auswirkungen auf den Fortgang des europäischen Neolithikums gehabt hätte.
Was die Sprache der Bandkeramiker betrifft, so sind wir uns ja darüber einig, daß diese in den Bereich der Spekulation fällt. Jedoch ist nicht abzustreiten, daß die Ausprägung des frühen Neolithikums europaweit derart ähnlich ist, daß man von einem gemeinsamen Erbe ausgehen muß. Das könnte dann auch eine gemeinsame Sprachwurzel mit einschließen.
Wenn die Neolithisierung Europas aber das ganze Geheimnis ist, das hinter dem "indoeuropäischen Urvolk" stecken soll, dann bin ich fast einverstanden. Was mich dann jedoch überrascht, ist die unter diesen Umständen angenommene lange Tradition in der indoeuropäischen Sprachfamilie, die der Tatsache widerspricht, daß ein Großteil des indoeuropäischen Vokabulars zu dieser Zeit noch gar keine Verwendung gefunden haben kann.
Bestimmte Innovationen gab es noch gar nicht (Metallurgie, Pferdedomestikation, usw.), und die indoeuropäischen Begriffe zu diesen Themenbereichen können somit unmöglich von den Frühneolithikern mitgebracht worden sein.
Also greift hier wohl wieder eher mein Vorschlag, daß es auch später immer wieder zu Indoeuropäisierungen kam - im Sinne kultureller Impulse im Zusammenhang mit Innovationen von außerhalb.

K. Oertel: Es scheint ein gemeinsames Wort für Kupfer gegeben zu haben, aber für kein anderes Gebrauchsmetall. Diese Tatsache schien lange Zeit hilfreich, den Zeitpunkt des Zerfalls in Einzelsprachen halbwegs genau einschätzen zu können.
Den Beginn des allgemeinen Metallzeitalters hat das Indoeuropäische jedenfalls nicht ungeteilt erreicht.
Im Extremfall könnte man auch schon die Trichterbecherleute in Erwägung ziehen, da sie sich ja zeitlich und räumlich - zumindest teilweise - mit den Megalithikern überschneiden. Hier wäre dann eine mögliche Quelle für die strukturellen semito-hamitischen Spuren im Inselkeltischen und Germanischen zu vermuten, da die Megalithiker eben im Verdacht dieser sprachlichen Herkunft stehen.

P. Buwen: Wenn die Diskussion um das Ur-Indoeuropäische schon spekulativen Charakter hat, dann ist das bei der Bewertung der sprachlichen Zugehörigkeit prähistorischer Kulturen erst recht der Fall.
K. Oertel: So ist es. Gerade Fachleute warnen immer wieder vor einer voreiligen Zuordnung archäologischer Befunde mit sprachlicher Zugehörigkeit. Man kann hier lediglich mehr oder weniger plausible Vermutungen anstellen. Das ist so lange statthaft, wie man sie als solche kenntlich macht.
P. Buwen: Ich weiß ehrlich nicht, welcher Sprachfamilie "die Megalithiker" angehörten, wenn es sie denn als ethnische Einheit überhaupt gegeben haben sollte Aber es müßte mir jemand schon sehr plausibel erklären, warum gerade sie im Verdacht stehen, eine semito-hamitische Sprache gesprochen zu haben.
Das Vorkommen megalithischer Denkmäler im Vorderen Orient allein genügt mir dafür nicht.

K. Oertel: Das ist auch nicht das Argument. Die Sache ist einigermaßen vage, und von "Nachweis" kann erst recht keine Rede sein.
Die Sache stellt sich so dar:
Die keltischen Sprachen weisen einige Eigenheiten im grammatikalisch-strukturellen Bereich auf, die offensichtlich nicht indoeuropäisch sind und die ihre Parallelen in semito-hamitischen Sprachen finden.
Da gerade die Kelten in den früheren Wohnsitzen der europäischen Megalithiker siedelten und diese sprachlichen Eigenheiten somit von dieser Vorbevölkerung übernommen haben könnten, läßt sich daraus der Verdacht ableiten, daß die Megalithiker sprachliche Verwandte der Berber gewesen sein könnten.
In Marokko und auf den Kanaren hat man sprachliche Formen des Baskischen, wie auch des Semito-Hamitischen gefunden.
Deshalb darf man das Berberische als Semito-Hamitisch mit baskischem Substrat deuten. Und mit aller Vorsicht hat man diese Vermutung auch auf die nordeuropäischen Megalithiker übertragen. Nun haben ja die Germanen ebenfalls in ehemals megalithischem Gebiet gesiedelt, und nach der Logik des gerade Ausgeführten müßten wir dann auch im Germanischen ein entsprechendes Substrat finden. Und genau das glaubt man im germanischen Ablautsystem gefunden zu haben.
Der "Ablaut" ist der erste Vokal nach dem Anlaut eines Wortes, der sich im Germanischen je nach Zeitform verändert ("ich werde, ich war, ich wurde, ich würde"). Das ist in den übrigen indoeuropäischen Sprachen unüblich. Dort reicht die flektierende Endung zur Kennzeichnung der Zeitform.
Diese Ablautentwicklung findet sich aber identisch im Semito-Hamitischen. Aber das war jetzt sehr speziell. Um zu unserem ursprünglichen Thema zurückzukommen: wichtige Antworten auf Ursprung und Verbreitung des Indoeuropäischen könnte ein genauerer Aufschluß über die Domestikation des Pferdes geben. Und hier ist ja seit kurzem tatsächlich einiges im Fluß.

P. Buwen: Warum sollte man die Frage nach dem Ursprung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft mit einem bestimmten Ereignis - und damit festen Zeitpunkt - verknüpfen?
Kann es sich nicht um eine über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewachsene Verwandtschaft handeln? Warum also sollte ausgerechnet das Pferd für diese Sprachverwandtschaft verantwortlich sein?
Nur, weil es bezüglich der Pferdedomestikation im gesamten indoeuropäischen Sprachraum verwandte Wörter gibt?
Dafür gäbe es auch eine andere plausible Erklärung: die Pferdedomestikation war eine wichtige und nützliche Innovation - völlig unabhängig von der Frage, wann und wo sie einsetzte - , die verständlicherweise exportiert wurde, und mit der Sache selbst vermutlich auch das Fachvokabular.

K. Oertel: Richtig. Und dafür haben wir gerade im Alten Orient die besten Beispiele, wo eben die Fachterminologie, die mit Pferd und Streitwagen zusammenhängt, indoeuropäischen Ursprungs ist. Vielleicht ist die Verbreitung des domestizierten Pferdes als "cultural marker" für die Indoeuropäer ja nicht korrekt. Bisher aber sprachen gute Gründe dafür.
Zudem geht es hier nicht nur um Wortgleichheit, sondern auch um eine entsprechende Ideologie, die sich vor allem in der gemeinsamen Mythologie wiederfindet. Und die geht eben weit über die tägliche Nützlichkeit des Tieres hinaus und weist ebenfalls auf einen gemeinsamen Ursprung.

P. Buwen: Die Mythologie eines Volkes beruht nicht zuletzt gerade auf der Nützlichkeit bestimmter Elemente. Sie spiegelt somit die Alltagswelt einer Kultur wider. Eine Bevölkerung, deren Hauptbeschäftigung der Ackerbau ist, wird einen bedeutenden Fruchtbarkeitskult kennen, intensive Viehhaltung begünstigt die Herausbildung eines Stierkultes oder ähnlichem, ein Volk, das dauernd im Kampf mit seinen Nachbarn liegt, wird einen Kriegsgott als höchste Instanz anbeten, und Populationen, bei denen das Pferd eine wichtige Rolle spielt, entwickeln einen Pferdekult.
Und gerade das Pferd stellte als Innovation eine nie dagewesene Erleichterung des Alltagslebens dar: es erlaubte eine bis dahin beispiellose Mobilität, einen unvorstellbaren Vorteil im Kriegswesen usw.
Ist es da ein Wunder, wenn das Pferd in der Mythologie auftaucht?
Und wäre es weiterhin nicht sogar denkbar, daß die sehr pferdespezifische Mythologie mit der "Innovation Pferd" weitergereicht wurde?

K. Oertel: Denkbar ... ja. Dagegen spricht aber, daß diese mythologischen Parallelen ausschließlich bei indoeuropäischen Völkern existieren, nicht aber bei jenen benachbarten, nicht-indoeuropäischen Völkern, die das Pferd ebenfalls übernommen haben.
Deinem Gedanken zufolge dürfte diese scharfe Abgrenzung dann aber nicht existieren.

P. Buwen: Das ist in der Tat ein Einwand, der bedenkenswert ist. Welche nicht-indoeuropäischen Nachbarvölker bedienen sich denn welcher Vokabeln? Vielleicht kann ich diesen Aspekt erklären, wenn du mir konkrete Beispiele nennst. Es wäre z.B. möglich, an spätere Einwanderung zu denken.
K. Oertel: Soviel ich weiß, sind alle eurasischen Begriffe für das Pferd der Entlehnung aus dem Indoeuropäischen mehr als verdächtig.
Im Indoeuropäischen gab es zwei grundsätzliche Begriffe. Der am weitesten belegte geht auf die Wurzel "ekuos" zurück, lateinisch "equus", germanisch "ehwaz", West-Tocharisch "yakwe", altgriechisch zwar "hippos", im Mykenischen aber noch "ikkos", altindisch "aswah".
Von dieser letzten, altindischen Form haben die orientalischen Sprachen das Wort übernommen, und zwar durch Vermittlung über das hurritische "essi". Akkadisch "sisu", ugaritisch "ssw", hebräisch "sus". Kurioserweise ist diese hebräische Form als "Zosse" über das Jiddische zurück ins Deutsche gewandert. Der zweite indoeuropäische Begriff lautet "markos", der sich seltsamerweise nur in den keltischen und germanischen Sprachen erhalten hat: altirisch "marc", walisisch "march", altnordisch "marr" und neuhochdeutsch "Mähre".
Man vermutet, daß dies die ursprüngliche Bezeichnung für das Wildpferd war, während "ekuos" die domestizierte Form kennzeichnete.
Nun finden wir bei den asiatischen Völkern ebenfalls diese Form wieder: mongolisch "morin", chinesich "ma", koreanisch "mal" und burmesisch "mrah".
Um zum Thema zurückzukommen: die religiöse Stellung des Pferdes, die sich auch in einem komplizierten Ritual des Pferdeopfers ausdrückt, ist von altindischen bis zu europäischen Quellen weitgehend identisch nachgewiesen, ebenso die Verbindung des Pferdes zu bestimmten Gottheiten. Gerade das aber fehlt völlig im semitischen und mongolischen Kulturbereich, obwohl jene Sprachgruppen nach Lage der Dinge die Kunst der Pferdehaltung einschließlich der Fachterminologie aus dem Indoeuropäischen übernommen haben.
Natürlich kann man aus diesem Einzelfall auch andere Schlüsse und Möglichkeiten der Verbreitung konstruieren. Auf die Gesamtheit des sprachlichen Materials ist das aber weit schwieriger auszuweiten.

P. Buwen: Möglicherweise haben aber jene nomadisierenden Sprachgruppen aufgrund ihrer abweichenden Lebensweise auch nur Teilaspekte des Ganzen übernommen. Aber die Spekulationen in diesem Bereich gehen mir dann doch zu weit. Ich will nur sagen, daß Innovationen nicht immer und überall komplett übernommen werden, sondern der jeweiligen Lage angepaßt.
K. Oertel: Da stimme ich gerne zu.
P. Buwen: Wie bereits angedeutet: Modelle basieren immer auf dem derzeitigen Wissensstand.
Es ist also zwingend erforderlich, für neue Erkenntnisse in der Theorie genügend Raum zu lassen. Deshalb lehne ich die "Urvolk-Theorie" als angeblich einzig denkbare Möglichkeit ab und betrachte sie als sprachwissenschaftliches Modell, deren Verifizierung oder Falsifizierung noch aussteht. Die Sprachwissenschaftler scheinen sich näher an einer Verifizierung, die Historiker sich näher an einer Falsifizierung zu bewegen. Und diese Diskrepanz sagt mir, daß das Modell in dieser Form nicht völlig stimmig sein kann und mahnt mich dazu, nach Alternativmodellen zu suchen.

K. Oertel: Manchmal drängt sich mir der Verdacht auf, daß hier ein ganz anderes Problem mit hineinspielt. Bei etlichen Veröffentlichungen glaube ich nämlich den Schatten Kossinas und seiner siedlungsarchäologischen Methode zu sehen, deren Dogma ja war: "Scharf umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern".
Die neuere Forschung beteuert zwar immer wieder, daß dieser Denkansatz überwunden sei. Bei der Suche nach besagtem Ursprungsgebiet glaube ich jenen Denkansatz aber immer wieder zu verspüren. Ist ja auch sehr verlockend und verführerisch. Vielleicht haben wir hier also ein ganz gehöriges methodisches Problem, das uns in die Irre führt.

P. Buwen: Was mich weniger verwundert, da der Impuls für diese Suche nicht von den Prähistorikern, sondern von den Sprachwissenschaftlern ausgeht. Das ist doch gerade der von mir angeprangerte, falsche Ansatz: das sprachwissenschaftliche Material basiert auf einer völlig anderen Quellengrundlage und ist deshalb nicht ohne weiteres auf archäologische Modelle übertragbar. Das Ergebnis ist - wenn du so willst - eine Wiederbelebung Kossinas.
K. Oertel: Die Notwendigkeit zu alternativen Modellen sehe ich nicht ganz so zwingend, jedenfalls nicht aus den von dir genannten Gründen. Daß ein Ursprungsgebiet noch nicht entdeckt ist, liegt ja nicht zuletzt daran, daß man aus Bodenfunden des Neolithikums eben nie eine Sprachzugehörigkeit ableiten kann. Das ist bedauerlich, aber auch für die Zukunft wohl kaum zu ändern. Daraus resultiert auch, daß man Wege, Umwege und Zwischenstationen noch nicht in Details nachvollziehen kann. Damit muß man leben. Ein Anlaß, die gesamten Grundlagen der Sprachwissenschaft in Frage zu stellen, ist das nicht.
P. Buwen: Mit dieser Erklärung machst du es dir zu leicht. "Bedauerlich" bei dem ist allerdings, wenn eine Wissenschaft ihre Inhalte nicht mehr selbst in Frage stellt. Sie hat doch wohl die Pflicht, sich selbst gegenüber kritisch zu sein. Sonst herrscht nämlich Stillstand.
Ich fürchte, daß die indoeuropäische Sprachwissenschaft sich hier mit einer selbstkonstruierten Logik die Alternativwege schon fast verbaut hat. Eine der schlimmsten Gefahren für eine wissenschaftliche Disziplin ist die Entwicklung allzu stimmiger und logischer Modelle, die keinerlei Alternativen mehr erlauben!

K. Oertel: Ob die Lage der Dinge so schlimm steht, wage ich zu bezweifeln. Leider hat es allerdings - gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - etliche Sprachwissenschaftler gegeben, die sich berufen fühlten, mit sprachwissenschaftlichen Kenntnissen die Prähistorie erklären zu wollen.
Auch Kossina war ja von Haus aus Sprachwissenschaftler. In neueren Werken aber hört man doch sehr genau auf die Befunde der Prähistoriker und interpretiert diese mit dem schuldigen Respekt.

P. Buwen: Der zentrale Punkt ist doch die gemeinsame Sprachwurzel. Noch einmal ganz konkret: ist es denn ohne jeden Zweifel nachweisbar, daß die indoeuropäischen Sprachen einen gemeinsamen Ursprung besitzen?
Oder ist es nicht auch möglich, daß die Vorgänger dieser Sprachen zwar verschieden waren, aber den gleichen äußeren sprachlichen Einflüssen ausgesetzt waren?

K. Oertel: Diese Zweifel hat bisher noch niemand geäußert, und daran gibt es auch keinen vernünftigen Zweifel. Gegen die von dir angedeutete Alternative spricht nicht zuletzt, daß es sich bei dem gemeinsamen Wortschatz vorrangig um Dinge des elementaren Lebens handelt, also Bezeichnungen für die einzelnen Körperteile, sowie für "essen, trinken, gehen, sitzen, schlafen" usw., also Begriffe, die aller Erfahrung nach gerade nicht aus anderen Sprachen übernommen werden. Und eben das deutet auf einen gemeinsamen Grundstock.
P. Buwen: Das ist wohl zugegebenermaßen der derzeitige Wissensstand. Was mich jedoch dabei stört, ist die Tatsache, daß aufgrund dieses Modells von den Sprachwissenschaften ein geschichtlicher Ablauf vorgegeben wird, der archäologisch so nicht ohne weiteres zu verifizieren ist. Interdisziplinäre Forschung ist ja schön und gut, aber sie darf nicht dergestalt sein, daß eine Disziplin den Weg vorgibt, den die andere dann auf Gedeih und Verderb mitzugehen hat.
Solange es keine kompatible, archäologische Entsprechung zur sprachwissenschaftlichen Urheimat-Theorie gibt, möchte ich diese Vorstellung nicht zu meiner Arbeitshypothese machen.

K. Oertel: Diesen Ansatz kann ich nur gutheißen. Wenn eine solche Vorgabe durch die Sprachwissenschaften in einzelnen Fällen geschehen sein sollte, schießt das allerdings gewaltig über das Ziel hinaus.
Die Sprachwissenschaft kann lediglich feststellen, daß diese Sprachen verwandt sind, sich aus einer gemeinsamen Quelle entwickelt haben, kann eine zeitweise parallele Entwicklung einiger Mitglieder dieser Sprachfamilie nachweisen und durch Vergleich mit anderen Sprachgruppen - im konkreten Fall der uralischen - glaubhaft machen, daß eine frühe Nachbarschaft dieser Sprachen existiert hat. Sie kann nichts über genaue Wege der Ausbreitung sagen.
Bei geschichtlichen Abläufen bewegt man sich erst zu Zeiten der frühen Schriftquellen auf gesichertem Boden, die uns aber frühestens aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus Anatolien, Indien und Griechenland vorliegen.

P. Buwen: Du magst es als Kleinkariertheit bezeichnen...
K. Oertel: Aber nicht doch!
P. Buwen: ... aber dennoch meine Frage: kann die Sprachwissenschaft dies alles feststellen, nachweisen, glaubhaft machen?
Ist es nicht so, daß lediglich die Indizien - beruhend auf derzeitigem Wissensstand - diese Schlüsse nahelegen?

K. Oertel: Nein, hier bewegt man sich auf sicherem Boden der Tatsachen. Der Zusatz "nach derzeitigem Wissensstand" ist in Gedanken natürlich immer anzuhängen. Aber in welcher Disziplin wäre das anders?
P. Buwen: In keiner Disziplin ist das anders. Warum also sollten wir ausgerechnet bei den Sprachwissenschaften so tun, als lägen uns unumstößliche Wahrheiten vor?
K. Oertel: Wenn sich der Wissensstand in zehn Jahren verändert haben sollte, wären dem natürlich auch die Modelle anzupassen.
P. Buwen: Ich erlaube mir, auch noch vor diesem Stichtag Zweifel an den sprachwissenschaftlichen Aussagen zu hegen. Und ich sehe derzeit keine Möglichkeit, ein indoeuropäisches Urvolk zu verifizieren. Bestenfalls erkenne ich die historische Tatsache, daß es immer wieder Einflüsse aus dem osteuropäisch-innerasiatischen Raum auf Europa gegeben hat. Also keine einmalige Einwanderung indoeuropäischer Siedler, sondern wiederholt kulturelle Impulse aus dem Osten.
K. Oertel: Daß sich dieser Vorgang in mehreren Wellen abgespielt hat, liegt nahe. Kaum jemand denkt dabei an eine einzige, gewaltsame Umwälzung. Der Begriff "wiederholte kulturelle Impulse" ist aber ein bißchen zu vage, um die völlige Indoeuropäisierung Europas zu erklären. Vielleicht sollte man die Möglichkeit, daß sich das Indoeuropäische in Mitteleuropa entwickelt hat und hier immer schon heimisch war, nicht völlig außer acht lassen.
Ich neige dieser Meinung zwar nicht zu, es gibt aber immer noch ein paar Argumente, die das nach wie vor möglich erscheinen lassen.
Colin Renfrew kam vor einigen Jahren mit der Theorie, daß Anatolien das Ursprungsgebiet und die Ausbreitung des Indoeuropäischen identisch mit der Verbreitung der Landwirtschaft gewesen sei. Dagegen spricht aber zu viel, und unlängst hat er sich selbst wieder von seiner Theorie distanziert.

P. Buwen: Das muß gegen Anfang der 80er Jahre gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Auch wenn Renfrew hier einen Rückzieher gemacht hat, scheint mir seine damalige Vorstellung der Wahrheit doch sehr nahezukommen, nicht in der vorgelegten Form, sondern so, daß das Indoeuropäische nicht als einzelnes Phänomen - also Urvolk mit Ursprache -, sondern als Ergebnis vieler überlagerter Schichten aus verschiedenen Zeiten anzusehen ist. So ist vielleicht die unterste Schicht - und damit die Basis - in der Neolithisierung Europas zu sehen, deren Träger - um es vereinfacht darzustellen - gleichen Ursprungs waren und somit die gleichen Traditionen in alle Himmelsrichtungen exportierten.
Eine weitere Schicht mag der Beginn der Kupferzeit darstellen, der auf Einflüsse aus dem Nordpontikum zurückgeht und Innovationen wie Metallverarbeitung, Pferdedomestikation, hierarachische Gesellschaftsordnung u.a. nach Europa und Asien verbrachte. Und neben weiteren uns bekannten historischen Ereignissen gibt es wohl noch eine Vielzahl unbekannter potentieller Schichten.
All diese Schichten sind mit kulturellen, und damit auch sprachlichen Traditionen verbunden. Und nachdem sich Schicht über Schicht gelegt und miteinander vermengt hatte, erscheint uns - oder besser: den Sprachwissenschaftlern - das Ergebnis von Jahrtausenden kultureller Überlagerung heute als ein Konglomerat, das vordergründig scheinbar nur mit einer Urvolk-Theorie gedeutet werden kann.

K. Oertel: Daran könnte einiges Wahres sein. Diese Überschichtungen werden aber auch in konventionellen Ansätzen zugestanden.
P. Buwen: Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß das sprachwissenschaftliche Modell nicht nur auf eine gemeinsame universelle Sprache abzielt, sondern dies sogar mit einer ethnischen Einheit - eben diesem Urvolk - zu verbinden trachtet. Und diese Vorstellung geht mir entschieden zu weit.
K. Oertel: Was die gemeinsame Sprachwurzel angeht, ist eine andere Möglichkeit bei dem vorliegenden Material schwer vorstellbar. Die Ausbreitung von Sprachen erfolgt doch nach völlig anderen Prinzipien, als die Ausbreitung von Technologien.
Bei einer ethnischen Einheit des "Urvolkes" bewegt man sich allerdings auf dünnem Eis - ebenso bei Details der Ausbreitung -, das gebe ich gerne zu.
Hier hat man vor allem im 19. Jahrhundert zu leichtfertig Rasse mit Sprache verwechselt. Die Vorstellung eines ethnisch einheitlichen Volkes, das mit seinen angeblich typischen Charaktereigenschaften, Sitten und Einrichtungen über das Land herfiel und die Kulturen, die es vorfand, durch eine aus seinem hypothetischen Ursprungsland mitgebrachte Lebensform ersetzte, ist ein zu simples Modell, das in dieser Form auch von den Sprachwissenschaftlern heute skeptisch beurteilt wird. Hier kann man vor dem Einsetzen der Schriftquellen tatsächlich nur von Modellen sprechen.

P. Buwen: Aber so eingängig der Gedanke an ein gemeinsames neolithisches Erbe aufgrund der anerkannten Tatsache einer neolithischen Landnahme auch ist: die Frühneolithiker können unmöglich ein indoeuropäisches Wort für das Pferd in dieses Erbe miteingebracht haben, weil sie das Pferd eben noch nicht kannten.
K. Oertel: Diese Aussage wäre doch wohl auf die domestizierte Form zu beschränken. Neuere Erkenntnisse sprechen durchaus dafür, daß sie das Pferd als jagdbares Wild gekannt haben dürften. In bandkeramischen Siedlungen innerhalb Deutschlands sind von 5000 Knochen 17 dem Pferd zuzuordnen. Zugegebenermaßen eine magere Ausbeute, aber immerhin ...
P. Buwen: Im Gegensatz zu dir steht für mich völlig außer Frage, daß es zu Beginn des Neolithikums in Mittel- und Westeuropa keine Wildpferde mehr gegeben hat. Die angeblichen 17 bandkeramischen Pferdeknochen scheinen mir eher ein Irrtum zu sein, z.B. jüngere Gruben, die nicht erkannt wurden, Vermischung von Kulturschichten an aberodierten Hängen oder ähnliches.
Erstmals tritt das Pferd etwa zu Beginn der Kupferzeit in Europa auf den Plan - in domestizierter Form und mit rapide steigender Bedeutung.
Natürlich ist das domestizierte Pferd nicht vom Himmel gefallen. Ich erwähnte bereits, daß wichtige Impulse für den Beginn der Kupferzeit vom nordpontischen Bereich ausgingen, und hier ist auch der Beginn der Pferdedomestikation zu vermuten, die selbstverständlich die Existenz einer Wildform voraussetzte.

K. Langguth: Ohne auf die Ursprungsdiskussion über die indoeuropäische Ausbreitung eingehen zu wollen, möchte ich diese Aussagen Peter Buwens zur Pferdedomestikation doch korrigieren. In unserem Institut wird derzeit schwerpunktmäßig die Domestikation des Pferdes erforscht, vor allem durch den Leiter der Archäobiologischen Abteilung und einzigen Inhaber eines Lehrstuhles für Archäozoologie, Prof. H.P. Uerpmann. Ohne die Forschungsergebnisse vorwegzunehmen, sei soviel gesagt, daß derzeit von mehreren Domestikationszentren ausgegangen werden muß. Sie liegen in etwa zu Beginn der Metallzeiten, wo ein großer Transportbedarf aufkam.
Eines dieser Zentren kann mit Sicherheit der Iberischen Halbinsel zugeschrieben werden, weitere der Türkei und dem Zweistromland. Diese Erkenntnisse liegen aufgrund von C14-Datierungen direkt am Knochen vor.

P. Buwen: Ich habe nichts dagegen, von mehreren Domestikationszentren auszugehen. Ich hätte jedoch damit gerechnet, daß die frühen Zentren - wenn es denn mehrere sind - miteinander in Kontakt stehen sollten. Insofern irritiert mich die Nennung der Iberischen Halbinsel. Wie gesichert ist bei diesem Befund, daß es sich um eine Erstdomestikation handelt?
Oder ist es möglich, daß das Pferd hier bereits in domestizierter Form eingeführt wurde?

K. Langguth: Der Befund ist gesichert. Das domestizierte Pferd wurde keineswegs eingeführt. Es handelt sich um recht kleine Hauspferde, während die im Osten domestizierten Pferde verhältnismäßig groß sind. Für Archäozoologen ist eine solche Bestimmung der Größe kein Problem.
P. Buwen: Mir erscheint das doch sehr fraglich. Müßten wir - wenn es in Mitteleuropa neolithische Wildpferde gegeben hätte - nicht häufiger auf Befunde stoßen, die diese These stützen?
Wir finden ja auch Überreste anderer selten bejagter Tiere in Siedlungen.

K. Langguth: Es gab sicher in Süd- und Mitteleuropa Reliktvorkommen des Wildpferdes entlang den Flußauen. Somit sind die von Kurt Oertel erwähnten bandkeramischen Siedlungsgruben kein Irrtum.
P. Buwen: Worauf basiert diese Aussage? Hoffentlich nicht auf den erwähnten 17 Knochen. Die genügen mir als Beweis nicht.
K. Langguth: Bei Grabungen, die im Umfeld von Siedlungen in den Flußauen Mitteleuropas gemacht werden, findet man regelmäßig zahlreiche Pferdeknochen. Pferde fehlten in der Fauna Europas niemals völlig, wenn sie auch selten waren und nur in Reliktvorkommen existieren konnten. Die zunehmende Bewaldung verdrängte das Steppentier Pferd auf die offen gebliebenen Flußauen.
Auf der Iberischen Halbinsel gab es offenbar durchweg einen größeren Bestand an Wildpferden. Unmittelbar vor dem Beginn der Domestikation gab es verschieden große Populationen von Wildpferden und somit voraussichtlich von Anfang an auch unterschiedliche Pferderassen.

P. Buwen: Es gab doch aber auch schon sehr früh unterschiedliche Hunderassen, ohne daß wir verschiedene Caniden als Urformen annehmen.
K. Langguth: Bei den Pferden war aber im Unterschied zu den Hunden von Beginn an der Größenunterschied relevant und klar ersichtlich. Ob es für das Pferd überhaupt ein Domestikationszentrum in den südrussischen Steppen gab, wie allgemein behauptet, ist nach dem aktuellen Forschungsstand unsicher.
P. Buwen: Zumindest spricht manches dafür, daß es im Nordpontikum schon sehr früh domestizierte Pferde gab: neben figürlichen Darstellungen von Pferden in Gräbern der Srednij-Stog-Kultur gibt es in deren Siedlungen eine ganze Menge von Pferdeknochen. In Dereivka sind dies beispielsweise über 60 % aller Tierknochen! Mir ist leider nicht bekannt, ob die C14-datiert sind.
K. Langguth: Als Fleischlieferant wurden die Pferde sicher nicht gezüchtet. Dafür standen zu diesem Zeitpunkt schon ausreichend andere Tiere zur Verfügung.
P. Buwen: Weiterhin wäre zu erwähnen, daß Kontakte zwischen dem Nordpontikum und dem westpontischen Raum erwiesen sind, wodurch es naheliegend scheint, daß auch das domestizierte Pferd zumindest über (!) das Nordpontikum nach Südost- und Mitteleuropa gelangte.
Als Bestätigung dafür sehe ich nicht zuletzt euer eigenes Forschungsergebnis an, wonach "älteste" domestizierte Pferde in der Türkei und im Zweistromland nachweisbar scheinen. Das klingt verdächtig nach dem Nordpontikum als Ausgangsgebiet, während der Vordere Orient möglicherweise schon recht früh von dieser Innovation profitiert hat. Letztlich macht es für mich auch mehr Sinn, die weitläufigen, ebenen südrussischen Grassteppen als Ursprung der Pferdedomestikation anzunehmen, als etwa die gebirgige, teilweise zerklüftete Türkei oder das sumpfige Zweistromland.

K. Langguth: Zweifelsohne wurde vor dem Pferd der Esel domestiziert, und zwar für Transportzwecke. Und das keineswegs in der südrussischen Steppe! Hier muß man sich dann die Frage stellen, weshalb die Menschen unbedingt das Pferd domestizieren wollten. Schließlich kommen solche Innovationen nicht gottgegeben oder von selbst. Sonst hätten die Römer auch das Auto erfunden, da sie ja ein entsprechend gut ausgebautes Straßennetz hatten und ihnen sowohl die nötigen Materialien, wie dem Grunde nach auch die Technik hierfür zur Verfügung gestanden hätten. Es muß auf jeden Fall ein sinnvoller Grund für die Domestikation vorliegen. Der wäre mit dem erhöhten Transportbedarf zu Beginn der Metallzeiten erklärbar. Und hier konnten diejenigen, die den Esel gezähmt hatten, auf ihre Erfahrungen zurückgreifen.
Weshalb in der südrussischen Steppe ein Bedarf für die Pferdedomestikation bestehen sollte, ist derzeit nicht zu begründen. Eine Jagd auf das dort häufige Wildpferd ist jedoch wahrscheinlich. Weshalb sollten dann keine Figurinen vom Pferd als der Hauptjagdbeute angefertigt werden?

P. Buwen: Wenn nicht die Steppenlandschaft selbst und die nomadische Lebensweise der südrussischen Steppenbewohner Grund genug ist, um einen Bedarf zur Domestikation zu begründen, was denn dann?! Logisch erscheint mir, daß die Domestikation durch das Bedürfnis nach Mobilität bewirkt wurde. Von dem Argument des Fleischbedarfs halte ich wenig. Du hast ja selbst angedeutet, daß als Fleischlieferant bereits andere Tiere zur Verfügung standen. Und wenn man williges Rindvieh hält, hetzt man nicht hinter schnellen und scheuen Wildpferden her, um diese zu verzehren. Zudem gibt es, wenn ich mich recht erinnere, Anhaltspunkte für Pferdeschirrung, was kaum zum Wildpferd als Nahrungsquelle paßt. Zum Esel ist aus meiner Sicht zu sagen, daß der wohl eher im südlichen Mittelmeerraum domestiziert wurde, weil es dort keine Populationen von Wildpferden gab. Also dieselbe Idee, aber unterschiedliches Ausgangsmaterial.
K. Oertel: Bisher habe ich dieser neuen Wendung der Dinge staunend zugehört. Aber nun muß ich mich doch eher auf die Seite Peter Buwens schlagen. Die neuen Erkenntnisse, die Kurt Langguth hier dankenswerterweise vorgetragen hat, will ich in keiner Weise anzweifeln. Dennoch gibt es einiges dazu zu sagen. Genau wie Peter Buwen warne auch ich vor einer voreiligen Aufgabe der nordpontischen Region als frühem Domestikationszentrum. In dem letzten Artikel von Herrn Uerpmann (in: Archäologie in Deutschland, H.4/1998) wird diese Herkunft zwar bezweifelt, Gründe dafür werden aber nicht genannt. Die zeitliche Stellung kann jedenfalls kaum ein hinreichender Grund sein. Und deutet nicht auch gerade die ca. 10 cm höhere Schulterhöhe des in der Eisenzeit aus Osteuropa eingeführten Pferdes auf eine längere Domestikation im Gegensatz zum hiesigen kleineren "keltischen" Pferd?
Oder lagen hier verschiedene Wildformen zugrunde? Die von Peter erwähnte Srednij-Stog-Kultur ist C14-datiert. Ergebnis: 4200 - 3700 v.Chr.
Sie läge damit doch wesentlich früher, als die europäischen Parallelen. Eine störende Tatsache will ich dabei aber nicht verschweigen: Die Beweislast ruht sehr auf einem Pferdeschädel aus Dereivka, der aufgrund charakteristischer Abnutzungsspuren an den Zähnen den Gebrauch einer Trense belegt, dessen C14-Analyse aber nur das Ergebnis 2900 v.Chr. ergab und somit eigentlich zu spät für den Srednij-Stog-Horizont liegt. Aber das Pferd ist ja nicht nur in Dereivka, sondern auch an anderen Orten im Norpontikum belegt, und zwar früher als eure europäischen Parallelen. Daß eine seperate Domestikation in Europa stattgefunden haben kann, bestreite ich nicht, da das euch vorliegende Material ja eindeutig zu sein scheint. Es ist aber zu fragen, ob hier mit "seperat" auch "unabhängig voneinander" gemeint ist. Könnte es nicht sein, daß die Kenntnis der Domestikation übernommen wurde, die Domestikation selbst dann aber unter Nutzung des einheimischen Wildbestandes erfolgte?
Der von Kurt Langguth angeführte erhöhte Transportbedarf im Früh-Metallikum ist sicher richtig. Aber gerade das Pferd - und erst recht das europäische mit seiner Schulterhöhe von maximal 126 cm - dürfte kaum dafür geeignet gewesen sein, die seit der Kupferzeit bekannten, schweren, vierrädrigen Karren mit Scheibenrädern zu ziehen. Pferde konnte man auch nicht ins Joch spannen, wie Ochsen. Deshalb bin ich einer Meinung mit Peter Buwen, daß nicht der Transport, sondern die Mobilität das entscheidende Argument gewesen sein dürfte. Gerade in den südrussischen Steppengebieten hätte das den Vorteil gehabt, den Siedlungsraum von der unmittelbaren Nähe zu den Flußsystemen weit in das offene Grasland hinein erweitern zu können. Für einen derartigen Vorgang haben wir in der neueren Völkerkunde ein gutes Beispiel: die Indianer Nordamerikas haben das Pferd ja erst durch die Europäer kennengelernt. Ihr rasanter Kulturwechsel im 18. Jahrhundert zu dem bekannten Bild der büffeljagenden Prärie-Indianer wurde dadurch ja erst möglich. Das kontrollierbare Gebiet erweiterte sich um das Fünffache, es entstand ein völlig neues soziales Wertesystem, bei dem Wohlstand und Prestige ganz auf Pferdehaltung beruhten, und ebenso kam eine neue Form und Ethik der Kriegführung auf (und bei manchen dieser Aspekte scheinen starke Parallelen zur frühen indoeuropäischen Welt vorzuliegen).
Im miltärischen Bereich wurden durch das Pferd nicht nur Überraschungsüberfälle möglich, gleichzeitig wurde auch das Risiko einer Verfolgung durch den Gegner ausgeschlossen. All diese Argumente lassen sich doch gerade auf den nordpontischen Raum anwenden, so daß man einen Bedarf in diesem Gebiet nicht nur überzeugend begründen kann, er springt einem geradezu zwangsläufig ins Auge.
Überhaupt wurde ein Hirtennomadentum, wenn es denn über Schaf- und Ziegenhaltung hinausging, durch das Pferd erst möglich. Bei dieser etwas gewöhnungsbedürftigen Vorstellung von neolithischen Cowboys sind wir allerdings bei der schwierigsten Frage überhaupt angelangt: seit wann reitet man auf Pferden?
Lange Zeit hat man die Erfindung des Reitens sehr spät angesetzt. Im Alten Orient z.B. ist uns Kavallerie erst ab dem 10. Jahrhundert v.Chr. belegt. Dem steht aber der Befund gegenüber, daß der hethitische Gott Pirwa seit alters her auf Siegeln und Statuen beritten dargestellt ist.
Auch der Rig-Veda, dessen Entstehung auf 1500 - 1200 v.Chr. angesetzt wird, kennt bereits den Sattel (RV 5.61, 2-3), sowie das Antreiben von Pferden mit Peitsche und Fersen (RV 1.162, 17), was ebenfalls auf Reitkenntnisse schließen läßt. Gerade die indoeuropäische Sprachwissenschaft tat sich lange Zeit schwer, das Reiten als frühe Fertigkeit zu vermuten, da fast alle entsprechenden Begriffe ursprünglich "fahren" bedeuteten, so auch im Germanischen, wobei das englische "to ride" den alten Sachverhalt des Fahrens ja noch beinhaltet. Erst in neuerer Zeit hat man ein paar altertümliche Verbformen des Wortes "Pferd" selbst nachgewiesen, die nahelegen, daß die Reitkunst doch wohl sehr viel älter ist, als man bisher anzunehmen geneigt war.
Der eigentliche "cultural marker" für die Indoeuropäer ist aber nicht nur das Pferd, sondern in vielleicht noch stärkerem Maße der zweirädrige Streitwagen mit Speichenrädern. Und hierfür war das Pferd natürlich ideal, nicht aber für die alten Scheibenräderkarren. Die Erfindung des Streiwagens wird allgemein mit den Indoeuropäern in Verbindung gebracht, und sie scheint tatsächlich im nordpontischen Raum gemacht worden zu sein. Zumindest konnten die Versuche, seine Erfindung in den Alten Orient zu verlegen, bisher nicht überzeugen.

K. Langguth: Da muß ich wohl ein offenkundiges Mißverständnis beseitigen: ich hatte zwar ketzerisch das - in der Literatur fast ausschließlich genannte - nordpontische Domestikationszentrum des Pferdes in Frage gestellt. Keineswegs wird dadurch aber dieses Gebiet von der Betrachtung ausgenommen. Natürlich wird auch bei uns unter Berücksichtigung der südrussischen Steppe geforscht. Nur sind die Ergebnisse so eindeutig nicht, wie es uns viele Autoren gerne glauben machen möchten.
P. Buwen: Nach all dem fürchte ich, daß bei weitem noch nicht alle relevanten Befunde befriedigend ausgewertet sind, um die Frage nach dem Ursprungsgebiet des domestizierten Pferdes abschließend zu entscheiden.
K. Langguth: An unserem Institut ist man gerade dabei. Ob diese Arbeit alle Fragen klären kann, ist - wie so vieles in der Archäologie - unwahrscheinlich. Sicher ist nur, daß die Frage nicht nach DEM Ursprungsgebiet, sondern nach den Ursprungsgebieten lauten muß.
K. Oertel: Nach diesem aufschlußreichen Exkurs möchte ich auf das eigentliche Thema zurückkommen. Peter Buwens Modell "fortgesetzter kultureller Impulse" wirft in der Praxis natürlich mehr Fragen auf, als es beantwortet.
P. Buwen: Das wäre für die Wissenschaft als solche ja nicht unbedingt verwerflich und schon gar nichts Neues. Es war stets so, daß neue Erkenntnisse mehr Fragen aufgeworfen haben, als sie beantworten konnten. Das Problem ist doch: wenn es das Ur-Indoeuropäische wirklich als gemeinsame Ursprache gegeben haben sollte, dann hätte es sämtliche europäischen Vorläufersprachen fast völlig überdeckt, bis auf wenige Reste, über die der Sprachwissenschaftler eher zufällig stolpert und weniger mit systematischer Methodik aufspürt.
Wie kann aber eine Sprache eine andere fast völlig verdrängen?
Oder anders gefragt: welcher kulturhistorische Vorgang muß als Ursache für ein solches Phänomen angenommen werden?
Dazu muß man zusätzlich die schon mehrfach angedeutete Frage stellen: wie verbreitet sich Sprache im Allgemeinen, und wie kommt es im Speziellen zu einer völligen Verdrängung einer Sprache durch andere?
Die Antwort kann m.E. nur lauten: durch Invasion. Oder hast du eine bessere Erklärung?

K. Oertel: Nein. In dieser Frage gebe ich dir gerne Recht. Ohne Wanderungen ist der Vorgang nur schwer vorstellbar.
P. Buwen: Und der Haken bei der Sache ist: eine solche anzunehmende Invasion, die ja den halben eurasischen Doppelkontinent betroffen haben müßte, läßt sich in dem fraglichen Zeitraum nicht feststellen.
K. Oertel: Diese Aussage ist nur dann korrekt, wenn man sie auf Mitteleuropa beschränkt. Überall anders haben wir durchaus stützende archäologische Belege: Griechenland, Anatolien, Indien usw.
P. Buwen: Ich bin leider nicht sehr über die Indische Archäologie informiert. Aber ist es nicht so, daß erst kürzlich der Zeitpunkt der "indoeuropäischen" Einwanderung nach Indien revidiert werden mußte? Ich dachte, ich hätte da etwas gehört.
K. Oertel: Das würde mich interessieren. Wenn diese Revision von indischen Wissenschaftlern stammt, ist aber eine gewisse Vorsicht angebracht. Dort gibt es nämlich eine starke Tendenz, eine indoeuropäische Einwanderung generell zu leugnen. Dort steht die Erklärung hoch im Kurs, die indoeuropäischen Sprachen seien ein genuin indisches Exportprodukt und hätten sich dort entwickelt. Hinter dieser Erklärung, die altehrwürdige indische Sprache und Kultur sei Lehrmeister der übrigen Welt gewesen, sind aber unschwer ideologische Gründe und Nationalstolz zu erkennen.
P. Buwen: Aber auch die nachgewiesenen Wanderungen sind doch wohl zeitlich versetzt gewesen. Ich glaube kaum, daß man annehmen kann, daß alle diese Landschaften in einem Zug und zudem durch eine spezifische Bevölkerungsgruppe okkupiert wurden.
K Oertel: Damit hast du selbstverständlich recht. Aber auch die konventionellen Modelle gehen schon lange nicht mehr von einem Urknall aus, bei dem ein Urvolk gleichmäßig und zur selben Zeit in alle Richtungen auseinandergespritzt wäre. Auch nach herkömmlicher Vorstellung waren das Wellen in zeitlichen Abstand, die sich im Zielgebiet durchaus überlagert haben können. Aber auch in Europa ist die Lage der Dinge doch gar nicht so hoffnungslos. Nordeuropa z.B hat mit den Schnurkeramikern / Streitaxtleuten und dem Übergang zur Einzelgrabkultur gegen 2000 v.Chr. gute Kandidaten für eine Indoeuropäisierung.
P. Buwen: Wobei auch die Schnurkeramik keineswegs nur fremde Traditionen aufweist, sondern durchaus auch aus einer einheimischen Basis ableitbar ist. Die Keramik knüpft prinzipiell an europäische Traditionen an, die im Kulturkomplex der Trichterbecherkultur zu suchen sind. Und damit meine ich nicht allein die nordische Trichterbecherkultur. Lediglich die Schnurabdruckverzierung, die sich ähnlich auch in Osteuropa findet, verleitet die Archäologie immer wieder zu Analogieschlüssen.
K. Oertel: Nicht nur das. Da man bei den Schnurkeramikern zwar Bestattungen, bisher aber keine Siedlungen nachweisen konnte, war hier das Bild der Reiternomaden natürlich besonders verlockend. In Süddeutschland bzw. ganz Mitteleuropa haben wir zwar keinen solch drastischen Kulturumbruch, wohl aber zahlreiche aufeinanderfolgende Kulturen, bei denen uns nichts hindert, eine fortschreitende Indoeuropäisierung anzunehmen: am Mittelrhein die Adlerberg-Kultur, an der Oberelbe die Aunjetitzer und an der Donau die Straubinger Kultur, die in der Hochbronzezeit in die Hügelgräberkultur übergeht. Aus diesem Bereich bewegen sich gegen Mitte des 2. Jahrtausends immer neue Wanderwellen nach Westen und Süden bis letztlich die Träger der Lausitzer- und Urnenfelder-Kultur ganz Mitteleuropa überschwemmen. Mit guten Gründen könnte man hier doch die Grundlage der späteren europäischen Sprachlandschaft vermuten, oder nicht?.
P. Buwen: Nun, die mitteleuropäische Frühbronzezeit ist sicherlich auf der Basis einheimischer Traditionen entstanden. Mit der Hügelgräberbronzezeit fassen wir dagegen vielleicht tatsächlich eine Art Invasionswelle, die jedoch nicht ganz Mitteleuropa erfasst haben muß.
K. Oertel: Wenn du eine solche Deutung der Vorgänge ablehnst, haben wir weiterhin die Möglichkeit, ein so langsames und weitgehend friedliches Einsickern anzunehmen, das sich über Jahrhunderte hingezogen haben kann und deshalb keine Spuren eines drastischen Kulturumbruchs hinterlassen hat.
P. Buwen: Gegen ein solches Einsickern des Indoeuropäischen habe ich ja gar nichts einzuwenden. Im Gegenteil, das scheint auch mir die plausibelste Erklärung zu sein. Tatsache ist, daß wir in der Frühgeschichte immer und überall Bevölkerungsverschiebungen nachweisen können. Und natürlich erkennen wir dabei auch solche, bei denen Indoeuropäer andere Populationen verdrängt haben, wie in Griechenland und Anatolien. Aber berechtigt das schon zu der Annahme, daß wir damit auch die spezifische Indoeuropäisierung Europas fassen?
K. Oertel: Das ist ein richtiger Einwand: nur weil wir vom Invasionscharakter in einigen Fällen informiert sind, muß sich dieser Prozess nicht genauso in Mitteleuropa abgespielt haben. Überhaupt ist es mir bei manchen konventionellen Modellen ein Rätsel, wo denn die ganzen Menschenmassen hergekommen sein sollen. Irgendwo in den osteuropäischen Steppengebieten eine vagina gentorum, also eine solch überschäumende Völkerquelle zu vermuten, daß aus ihr eine Überschwemmung großer Teile Asiens und Europa erfolgt sein soll, kommt mir etwas ungereimt vor, vor allem, da nomadisierende Viehzüchter generell eine niedrigere Reproduktionsrate als seßhafte Bauern aufweisen.
P. Buwen: Eben! Und deshalb glaube auch ich nicht an eine Steppeninvasion als Ursache für indoeuropäische Sprachgemeinsamkeiten. Ich kann mir aber einen Innovations- und Sprachtransfer vorstellen, bei dem die osteuropäische und zentralasiatische Steppe eine Vermittlerrolle übernommen haben kann.
K. Oertel: Welche Innovationen hätten die Indoeuropäer denn zu bieten gehabt? Von der derzeit etwas unsicheren Pferdedomestikation einmal abgesehen, fällt mir an materieller Kultur dabei wenig ein. Oder sollten es Religion, Mythologie und soziale Einrichtungen gewesen sein, die sich ja ebenso wie die Sprache ausgebreitet haben? Es wäre überhaupt zu fragen, mit welchen Einwohnerzahlen wir in dieser Zeit rechnen dürfen. Vielleicht müssen wir gar nicht mit einer großen zahlenmäßigen Überlegenheit rechnen, wobei ich als Präzedenzfall die spanische Eroberung von Mexico und Peru erwähnen möchte. Man sieht ja auch, daß dort, wo die Indoeuropäer auf alteingesessene einheimische Kulturen trafen, sie sich sprachlich entweder überhaupt nicht langfristig durchsetzten, wie im Fall der Hethiter, oder aber mehr von den Alteingesessenen übernahmen, als sie ihnen aufzwingen konnten, wie in Griechenland.
P. Buwen: Wir dürfen in dem einen oder anderen Fall gerne annehmen, daß sich eine kulturelle Überlegenheit einwandernder Bevölkerungsgruppen auf den weiteren Verlauf der Sprachgeschichte ausgewirkt hat. Eine solche Vorstellung setzt aber nicht zwingend eine einmalige indoeuropäische Invasion voraus, sondern begünstigt im Gegenteil die Vorstellung einer langsamen Ausbreitung.
K. Oertel: Ich bin abermals genau deiner Meinung. Überhaupt möchte ich mich hier nicht in die Rolle gedrängt sehen, Vorstellungen der Sprachwissenschaft verteidigen zu wollen, die auch dort schon als überholt gelten. Bei den konventionellen Modellen kommt doch auch mir einiges ungereimt vor, und in vielen Punkten bin ich durchaus deiner Ansicht.
P. Buwen: Und meine Ansicht ist nach wie vor, daß man die Neolithisierung Europas als Basis der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft betrachten sollte. Zusammen mit dem Modell fortgesetzter kultureller Impulse und sich überlagernder Sprachschichten sehe ich darin derzeit die einzige Erklärungsmöglichkeit, wenn man archäologische und sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zur Deckung bringen will.
K. Oertel: Ich kann mir dabei immer noch nicht so recht vorstellen, wie deine Variante im Detail abgelaufen sein soll. Mit der Vorstellung "sich überlagernder Sprachschichten" habe ich dabei noch die wenigsten Schwierigkeiten, denn Ähnliches wird auch in den konventionellen Modellen angenommen.
P. Buwen: Die Kernaussage meiner Vorstellung ist eben die, daß es es nicht "eine indoeuropäische Ursprache" gab, sondern daß die heutige sprachliche Gemeinsamkeit die Folge jahrtausendelanger Kontakte zwischen benachbarten Bevölkerungen mit unterschiedlichen Sprachen war, die zu einer Angleichung der Sprachen innerhalb des entsprechenden Gebietes führte.
K. Oertel: Gegen eine Ähnlichkeit ehemals unterschiedlicher Sprachen, die sich nur durch reine Nachbarschaft erst eingestellt hat, habe ich doch einige grundsätzliche Einwände, die ich jetzt noch einmal auf den Punkt bringen möchte. Nehmen wir als Beispiel das europäische Mittelalter oder überhaupt die letzten 1500 Jahre, die uns durch reichlich fließende Schriftquellen ja sprachlich gut erschlossen sind. Es bestand enge Nachbarschaft mit intensivstem innereuropäischem Kulturaustausch. Hat das zu einer sprachlichen Annäherung geführt? Nein, ganz im Gegenteil. Auch wenn zahlreiche Lehnwörter fleißig zwischen den Sprachen hin und her wanderten, hat sich die Struktur der Sprachen selbst doch zunehmend auseinanderentwickelt. Nach deinem Modell der Angleichung dürfte z.B ein Unterschied zwischen dem Spanischen und Portugiesischen genausowenig existieren, wie zwischen dem Schwedischen und Dänischen, Deutschen und Niederländischen usw. Dieser Unterschied existiert aber nicht nur, sondern er ist auch erst in historischer Zeit in durch Quellen belegbaren, kleinen Schritten entstanden. Als entsprechender Mikrokosmos wäre die deutsche Dialektlandschaft zu erwähnen. Hier behauptet ja auch niemand, die deutschen Dialekte seien ursprünglich völlig verschiedene Sprachen gewesen, die sich über die Jahrhunderte erst durch Nachbarschaft immer ähnlicher geworden seien. Umgekehrt ist es richtig. Ein weiteres Beispiel stellt die Ausformung des Englischen in den ehemals britischen Kolonien dar. Während es z.B. in Kanada und Australien relativ unverändert blieb, weil es keine einheimischen Sprachelemente in sich aufnehmen mußte, war das in Indien und Afrika völlig anders. Dort "verwilderte" das Englische zu den teilweise kuriosen lokalen Formen. Überall finden wir also die Auseinanderentwicklung einer einstmals einheitlichen Sprache, auch bei intensivem Kulturkontakt. Indien eignet sich hier wieder als besonders prägnantes Beispiel, wo sich bei intensivster kultureller Einheit aus dem vedischen Altindisch eine kaum noch überschaubare Zahl einzelner Sprachen entwickelt hat, deren Entwicklung durch die hervorragende Quellenlage lückenlos belegbar ist. Generell berechtigt uns also nichts, für das europäische Neolithikum plötzlich einen Prozess annehmen zu dürfen, der genau gegenteilig verlaufen wäre. Zumindest wäre diese Annahme in höchstem Maße erklärungsbedürftig. Die oben genannten Beispiele sind weder isolierte Einzelfälle, noch reine Denkmodelle, sondern konkrete Fakten. Als man zu Beginn des 19. Jahrhunderts die der Sprachentwicklung eigene Gesetzmäßigkeit entdeckt hatte, ließ sich bald beweisen, daß sie den Erfordernissen der Empirik standhielt, will sagen, daß die Entwicklung und Veränderung aller untersuchter Sprachen - auch anderer Sprachfamilien - denselben Gesetzen unterliegt. In diesem speziellen Detail sehe ich mich also genötigt, relativ unnachgiebig bleiben zu müssen, während ich die meisten anderen Einwände von dir als sehr anregend und bedenkenswert empfinde.
P. Buwen: Vermutlich ist es so, wie es in der Realität immer ist: ein einziges Modell wird der Wirklichkeit nicht gerecht, und die realen Gegebenheiten lassen sich nur durch ein komplexes Gebäude ineinandergreifender Theorien erklären.
K. Oertel: Das halte ich für eine hervorragende Formulierung, der ich mich wörtlich anschließen kann. Ein gegebenenfalls daraus zu entwickelndes Modell, das allen Befunden gerecht wird, wird sich allerdings kaum in dieser Diskussion entwickeln lassen, weshalb ich auch vorschlage, das Thema nun langsam zum Abschluß zu bringen.
P. Buwen: Ich stimme zu. Auch ich sehe mich momentan kaum in der Lage, weitere relevante Impulse beisteuern zu können. Im Augenblick dreht sich die Diskussion etwas im Kreis. Und das ist immer ein sicheres Zeichen dafür, daß alles gesagt wurde, was den Diskussionsteilnehmern unter den Nägeln brennt. Beenden wir also hiermit die Diskussion.

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